Was kommt zuerst – die Henne oder das Ei?
Von Judith Lorenzon
Das Hochgefühl des Helfens – ein jeder, der sich für eine Sache oder andere Menschen engagiert, kennt es. Dass Geben seliger ist denn Nehmen, mahnt schon die Bibel. Dennoch sind Nächstenliebe und soziales Engagement keine Erfindung des Christentums. Es scheint vielmehr den meisten Menschen eigen, sich zum Wohl der Allgemeinheit einbringen zu wollen – im Kleinen wie im Großen. Mitunter auch so übergroß wie Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der nach der Geburt seiner ersten Tochter, 99 Prozent seiner Facebook-Anteile im Wert von rund 45 Milliarden Dollar in eine Stiftung einbringen wollte. Doch so viel Großzügigkeit braucht es nicht, dass sich eine gute Tat auch einfach gut anfühlt.
Unterschiedlichen Schätzungen zufolge spenden etwa 20 bis 30 Millionen Deutsche jedes Jahr zwischen fünf und zehn Milliarden Euro für gemeinnützige Zwecke. Viele Millionen Mitmenschen opfern sogar große Teile ihrer Freizeit, um ehrenamtlich in Sportvereinen, Flüchtlingsheimen und Suppenküchen zu arbeiten. Doch sind gute Taten wie Teilen, Spenden und Helfen in Wirklichkeit gar nicht so selbstlos wie man denkt? Der heilige St. Martin, dem zu Ehren jedes Jahr die Laternen leuchten, gilt als Inbegriff der Hilfsbereitschaft. Welches Kind kennt nicht seine Geschichte: Der damalige römische Soldat reitet an einem frierenden Bettler vorbei und teilt seinen Mantel mit dem Schwert, um ein Stück davon abzugeben. Selbstlos verzichtet er auf den eigenen Komfort, damit der andere nicht frieren muss.
Doch gute Taten dieser Art sind möglicherweise nicht vollkommen selbstlos. Studien zufolge profitiert unser eigenes Wohlbefinden davon, wenn wir anderen helfen. „Wenn du einen Mangel an Freude empfindest, mach anderen eine Freude“, äußerte sich dazu jüngst Wolf-Jürgen Maurer, Facharzt für Psychotherapie in einem Artikel im Stern-Magazin. Zu dem Experten kommen viele Menschen, die in Sinnkrisen stecken, an Depressionen oder Burnout leiden. Von außen betrachtet geht es den meisten prächtig, denn Haus und Konto sind gut gefüllt, nur in ihnen selbst herrscht eine quälende Leere. Auf die Frage, woran es den meisten von ihnen mangele, antwortet er, das sei Sinn. Denn als vernunftbegabtes Wesen braucht der Mensch etwas, das größer ist als er selbst – eine Sache, in deren Dienst er sich stellt; ein Werk, in dem er aufgeht, einen Artgenossen, den er umsorgen kann. Wenn es ihm gelingt, auf diese Weise „die Welt ein wenig heller zu machen“, dann könnte der Mensch Sinn, Zufriedenheit oder sogar Glück erfahren, so Maurer.
Sieht also fast so aus, als wären wir am Ende alle zur guten Tat verdammt. Doch geht die gute Tat des Einzelnen nicht zu Lasten des Sozialstaates, dessen Aufgabe das Wohlergehen seiner Bürger:innen ist? Tatsächlich lautet der Hauptkritikpunkt am Charity-Wesen, dass mit jeder guten Tat der staatliche Handlungsdruck sinke. Wenn sich die Tafeln um die Armen kümmern, muss der Staat es nicht mehr tun. Wenn Eltern für das Schul-WLAN sammeln, spart die Kommune das Geld. Wenn Friseure für andere Friseure Spenden sammeln, müssen staatliche Soforthilfen ja nicht unbedingt „sofort“ kommen. Was folgt also daraus? Nichts tun? Warten? Das Elend, die Armut, die Verzweiflung so groß werden lassen, dass… ja, dass was eigentlich? Gar nichts zu tun, ist keine Option. Doch wir sollten auch nicht die Führungsrolle übernehmen, sondern uns dafür einsetzen, die „Zuständigen“ dazu zu bringen, zu tun, wofür sie zuständig sind. Schließlich ist die Henne vor dem glücklichen Ei da, oder?!
Judith Lorenzon ist Vollblut-Redakteurin, liebt es kreativ tätig zu werden und bevorzugt Optimismus in Magazinen & Zeitungen.
Der Kommentar „Was kommt zuerst“ ist zum ersten Mal in der newClips – 04-21 erschienen (Seite 44)